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Franz Kaltenbeck lebt als Psychoanalytiker und Schriftsteller in Paris. Er kannte Priessnitz zu Lebzeiten gut – und hat immer wieder über ihn gearbeitet. Priessnitz‘ Gedicht „ der blaue wunsch“ ( WA Bd. 1 – S.39) ist ihm gewidmet.
1990 hat er in Paris das große „Reinhard-Priessnitz-Colloquium“ organisiert. Dichter, Kritiker, Literaturwissenschaftler und Analytiker aus aller Welt kamen zusammen, um über Priessnitz Texte zu arbeiten. Die Dokumentation dieses Ereignisses ist 1992 im Droschl-Verlag erschienen.
Franz Kaltenbeck hat auch an Übersetzungen von Priessnitz Texten ins Französische mitgearbeitet, die u.a. in der Zeitschrift „Poesie“ erschienen sind.
Franz Kaltenbeck, geb. 1944 in der Steiermark, lebt seit 1976 in Paris. Lehranalyse bei J. Lacan und J.A. Miller, seit 1981 Psychoanalytiker und Dozent in Paris und Lille,
Redakteur von `La Cause freudienne`(1994 – 1998 ) und `Savoir et clinique. Revue de psychoanalyse`( seit 2000). Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften (Europa und Südamerika) – sowie in Anthologien – z.B. : „Carnets de Lille“(2000) und „Experiments with Truth“ (Documenta 11_ Platform 2) Hatje/Cantz 2002
franz.kaltenbeck@wanadoo.fr
Franz Kaltenbeck
Reinhard Priessnitz sticht in See Untiefen der Protopoesie
1.Nachweis Erweiterung eines im April 2007 in Linz gehaltenen Vortrags.
2. Einleitung
Als Reinhard Priessnitz nach Triest kam, soll er sich dort etwas anders verhalten haben als gewöhnliche Besucher dieser Stadt. Obwohl auch er es kaum vermeiden konnte, auf die Adria hinauszuschauen, habe er dem Meer doch öfter demonstrativ den Rücken zugekehrt. Priessnitz war bei Helmut Eisendle und seiner damaligen Lebensgefährtin, der Puppentheater-Prinzipalin Julia Reichert, in der oberitalienischen Hafenstadt du Gast. Julia Reichert erzählte diese Anekdote dem Germanisten Thomas Eder, der sie weitergab. Die kleine Geschichte nimmt schon einiges von dem vorweg, was Priessnitz in seiner mit der ehemaligen Hafenstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gleichnamigen Ballade schrieb, um die es hier im Folgenden geht(1). Priessnitz spielt mit seiner Geste vielleicht auf Homer an, einen "zeitgenosse[n] aller zeiten"(2), oder auf den von Blindheit bedrohten James Joyce, der in Triest sein erstes Exil fand. Er wendet sich auch von den überkommenen poetischen Ideen, die das Meer inspiriert hatte, ab. Aber er stellt vor allem die Verbildlichung der Quelle und des Gegenstandes von Poesie radikal in Frage. Seine abfälligen Verse 29 bis 31 verspotten die Identität spendende Definition des Meeres im Jargon des logischen Empirismus(3):
dass er, wären wie sie sind, die meere, meere, nämlich sozusagen grosse schlabbrigfeuchte reize, keinen anlass sähe, dass er ihren trübsal kläre,
Das zwischen 1974 und 1978 aus mehreren Vorstufen entstandene Gedicht wurde ein erstes Mal von Thomas Eder in seiner Diplomarbeit (1994) interpretiert.(4) Der Literaturwissenschaftler arbeitete dann seine Lesart im zweiten Kapitel seines Buches Unterschiedenes ist/gut. Reinhard Priessnitz und die Repoetisierung der Avantgarde aus.(5) Er hält diese "paarig und im weiteren Verlauf kreuzgereimte Ballade" mit Recht für ein "eminent poetologische[s] Gedicht". Man darf dem hinzufügen, dass die rythmische Struktur des Gedichtes, vom Dichter in einer Vorstufe(6) graphisch notiert, die Wellenbewegung des Meeres imitiert. Das rhythmische Schema lehnt sich an August von Platens Ballade Das Grab im Busento (1820) an: Nächtlich am Busento lispeln, bei Cosenza dumpfe Lieder, Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder!
Im Schatz der deutschen Balladen gibt es mehrere Texte mit mimetischen Rhythmen. Eders Wissensreferenzen (Goethe, Storm, Nietzsche, die Stoa, Wittgenstein, Deleuze,) leisten wertvolle Lesehilfe. Seiner Unterteilung in vier Abschnitte, die durch drei Doppelpunkte am Ende der Verse 5, 15 und 28 markiert sind, kann man nur folgen. Die vier Abschnitte haben verschiedene Anzahlen von Versen, während die vier Teile von orvieto jeder aus neun Versen bestehen. In triest liefert der letzte Vers eines jeden Abschnitts, wie in der Ballade "Ein Hund kam in die Küche" die ,Sprechblase' für den folgenden Abschnitt. Dieter Rot verwendete diese Form in mehreren seiner Texte. Priessnitz wählt die tote Sprache der Klassiker jedoch in anderer Absicht als Rot. Ihm geht es darum, eine Ozeanographie des Geniessens zu liefern, das für ihn sowohl die Quelle des Schreibens als auch die resistente Substanz seiner Schrift ist. Dazu braucht er eine erstarrte Sprache.
3. Rohe Beschreibung des Gedichts
Das ganze Gedicht ist eine von irrealen Konditionalsätzen getragene Hypothese. Die Verben dieser Sätze stehen natürlich im (zweiten) Konjunktiv. Das Schlussverb jedes Abschnitts kündigt eine Aussage an, die dann in indirekter Rede abgefasst ist. Auch sie verlangt natürlich den (ersten oder zweiten) Konjunktiv. Dem ersten Abschnitt geht natürlich keine solche Ankündigung des Folgenden voraus. Sein Schlussverb "schildern" kommt aus dem semantischen Bereich der beschreibenden Erzählung. Das Schlussverb des zweiten Abschnitts "tönen" kommt aus dem Akustischen, und es wird uns gesagt, dass der Sänger von den "vielen wellenmassen" übertönt wird. Am Schluss des zweiten und des dritten Abschnitts treten Widerstände, Hemmungen gegen die nachfolgenden Aussagen auf. Die Ballade scheint sich also selbst zu generieren, so wie sich der Baron von Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen wollte. Thomas Eder ging mit seiner vorbereitenden Interpretation von triest nicht ins Detail dieses schwierigen Textes. Zuerst fällt die Mehrzahl (der) "meere" auf, die ja auch der Vieldeutigkeit dieses Wortes entspricht. Das Meer in der Einzahl tritt erst ab dem Vers 11 auf. Natürlich kennt man aus der Geographie mehrere Meere: das Mittelmeer, das Rote Meer, das Schwarze Meer etc. Dann ist das Meer Objekt der Wahrnehmung und Schilderung; das Meer ist auch bei Schopenhauer, den Eder zitiert, Teil einer philosophischen Metapher für die mit einem Schiff im Sturm verglichene menschliche Existenz. Und das Meer hat die Eigenschaft der Tiefe, aber es gibt auch Meere mit Sandbänken, seichte Meere. Die Mehrzahl könnte auch auf den Nominalismus in triest hinweisen, der die Begriffseinheit "das Meer" angreift, und zwar nicht nur, weil sie einer gedankenlosen Metaphorik Vorschub leistet. Aber der Plural trägt vor allem dem in diesem Gedicht herrschenden Exzess Rechnung. Die Elementarzelle dieses Gedichts besteht in der aus den beiden Signifikanten "Meer" und "mehr" gebildeten Metonymie.
4. Meerwert
Wenn der Dichter im Vers 11 vom Plural zum Singular übergeht, so liest man dort doch: "mehr als dieses meer []", das im zwölften Vers sogar "durch niederungen / ja vermehrtes sei - äh, mindrer, []". Es ist, als genügte das im Imaginären doch schon unendliche "meer" im Singular nicht, als behalte der Dichter ein Archipel im Auge, das mehrere "meere" bilde, als brauchte er mehr als das Meer, einen Mehrwert von "meere[n]"(7). Der Übergang von mehr zu minder und der von seicht zu tief im einleitenden Abschnitt lässt nun folgende Alternative zu: 1. der Autor lehnt den Einheit stiftenden Begriff "das Meer" ab; oder, 2. "manche unsrer meere" funktionieren wie Objektive, die sich bis auf ihre Oberfläche verseichten sowie zur Tiefe verdicken, Instrumente also, die Oberflächen aber auch Tiefen schaffen können.
5. Gegen kognitive Dichtung
So wären Priessnitz' "meere" nicht nur Objekte sondern zugleich auch Instrumente der Anschauung, Anamorphosen. Aber greift der Autor von triest nicht gerade diese Theorie der Kontinuität vom kognitiven Apparat, der in das Wahrnehmungsobjekt übergeht, an? Ist diese Theorie nicht eine technizistische Version des Fantasmas? Gehorchen denn die Ereignisse, die den Dichter interessieren einem solchen Apparat, der dank seiner Kalkülvoraussagen mit seinen Wahrnehmungen zusammenwächst, sie simulierend vorwegnimmt? Aber genau um die unberechenbaren Ereignisse geht es dem Dichter. Daher seine dankende Ablehnung der Idee einer kognitiven Poesie. - 3. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, den die oben stehende Alternative zu fordern scheint, gilt hier nicht. Daher darf man noch an den folgenden Gebrauch der "meere" denken: der Autor habe diesen Signifikanten zusammen mit seinen "bescheinigten Kontexten" verwendet, also zum Beispiel den schon bestehenden Metaphern, in denen das Wort Meer vorkommt, wenn z.B. von seiner Tiefe, seiner Unbegrenztheit, seinen Stürmen die Rede ist. Nun hat aber Eder gezeigt, dass diese Metaphorik qua der Antonyme Tiefe/Seichtigkeit auch im Dienst der Poetologie steht. Er verweist u.a. auf Stellen bei Goethe und bei Storm. Das Attribut "tief" metaphorisiert die Gefühlsverfassung, von der angenommen wird, dass sie zur poetischen Produktion gebraucht wird. Dieses Adjektiv wäre also ein Bild und zugleich eine Brücke von der Seele des Dichters zu seinem Ausdruck. Man sollte auch Romain Rolands "ozeanisches Gefühl", das Freud von sich wies, nicht ausser Acht lassen, stellt der französische Schriftsteller doch die Unbegrenztheit in das Zentrum seiner Religiosität.
6. Fiktion
Das ganze Gedicht wird von drei Hypothesen dominiert, deren Logik mit Hilfe von irrealen Bedingungssätzen im zweiten Konjunktiv zum Ausdruck kommt: - die Hypothese, dass manche Meere etwas seichter sind; - die Hypothese, dass mache Meere etwas tiefer sind; - die Hypothese, dass die Meere (so) sind, wie sie sind, nämlich Meere. Der dritte Abschnitt steht in indirekter Rede und in dem von ihr verlangten ersten Konjunktiv. Ab seinem dritten Vers wechselt der erste Abschnitt in den Indikativ über. Im ersten Vers des vierten Abschnitts (Vers 29) findet man den Einschub eines Nebensatzes im Indikativ in den Kontext des irrealen Konditionalsatzes "dass er, wären wie sie sind, die meere, meere.
7. Bilder. Vorläufiger Ansatz
Bei einer ersten flüchtigen Lektüre scheint sich das ganze Gedicht um die Mehrdeutigkeit der "bilder" des Meeres (genetivus objectivus und subjectivus) zu drehen, also der Bilder, die man sich vom Meer macht, und der Bilder, die es gemäss der Theorien der poetischen Schöpfung seit der Romantik enthält und hervorbringt. Von hier aus zweigt auch eine symbolische Verbindung zwischen dem Meer und der Sprache ab. Denn mehr als die Gefühle und Seelenzustände verdient es die Sprache mit einem Meer verglichen zu werden, hat sie doch unbegrenzte Kombinationsmöglichkeiten. Der erste Abschnitt (Vers 1-5) sowie der letzte (Vers 29-36) enthalten nirgends das Wort "bild". Der irreale Konditionalsatz des ersten Verses ("wären manche unsrer meere um so manches seichter") schafft die Fiktion von der Existenz mancher seichterer Meere, als es die bestehenden sind, was eine Art teilweiser Trockenlegung, wie die der Zuydersee voraussetzt, mit der Freud seinen Imperativ "Wo Es war soll Ich werden" veranschaulichte. Seichter sollen "manche unsrer meere" deswegen werden, weil es dann "der anstand mit dem handstand leichter leichter" hätte - "in see zu stechen".
8. Rätsel
Mit seinen in den Siebziger Jahren geschriebenen Gedichten (triest, orvieto, der blaue wunsch) schuf Reinhard Priessnitz Rätsel, deren Lösungen schwer fallen. Auch Edgar Allen Poe, Lewis Carroll, James Joyce, Franz Kafka oder Samuel Beckett bauten in ihre Werke, jeder auf seine Art, Rätsel ein, deren Lösungen sie selbst nie formulierten und welche die Exegeten noch lange beschäftigen werden. Oft lassen sich diese Rätsel nur dann lösen, wenn man die Struktur der Texte untersucht.
9. Tiefere und seichtere Meere
In der Exposition der Ballade (erster Abschnitt) werden virtuell, mit Hilfe eines den zweiten Konjunktiv verlangenden irrealen Bedingungssatzes tiefere von manchen "um so manches seichter[en]" Meeren unterschieden. Fast das ganze Gedicht ist im Konjunktiv abgefasst. Er dient der Schaffung "manche[r]" fiktiver Meere im irrealen Konditionalsatz und der indirekten Rede, welche die Konsequenz der grösseren Seichtheit oder grösseren Tiefe entfalten. So "hätte es der anstand mit dem handstand leichter leichter", wenn "manche unsrer meere um so manches seichter" wären. Was er leichter hätte, steht im dritten Vers: "falls erfordernis dereinst an ihn gerät, in see zu stechen."
10. Anstand
"anstand", das grammatikalische Subjekt des Gedichtes, kommt aus dem Bereich von Sitte und Moral und in Wendungen wie "Anstände bekommen" oder "keinen Anstand an etwas nehmen" vor. In der poetologischen Terminologie von Priessnitz könnte dieses Wort auch mit dem, was an etwas anderem ansteht, zu tun haben, also mit Angrenzung, ja mit Hindernis - das Verbum "hindern" findet sich tatsächlich im Vers 25. Der "anstand" wirkt als Agent des Schreibprozesses auf den fast gleich lautenden "handstand" ein, scheint aber von diesem auch behindert zu werden. Vier Vorstufen zeigen, dass "anstand" an die Stelle von "griffel" getreten ist, so z.B. in:
wären manche unsrer meere umso manches seichter hätte es mein müder griffel sicher viel leichter
Die folgende Stufe zeigt, woher der "handstand" kommt:
wären manche unsrer meere umso manches seichter hätte es mein müder griffel sicher leichter durch die grossen wellen sich hindurchzubrechen falls ihn eine hand verführt in see zu stechen
Das Paar "hand" und "griffel" wird also von "anstand" und "handstand" ersetzt. Das Substantiv "Hand" ist in der Endfassung erhalten. Dass die verführende "hand" und der "handstand" sexuelle Konnotationen haben, wird niemandem entgangen sein. Der "anstand" und der "handstand" verhalten sich nicht einfach wie eine befehlende und eine ausführende Instanz zueinander, der "handstand" scheint eher dem "anstand" das Leben schwer zu machen. Trotzdem kommt dem "anstand" die ethische Funktion zu, mit der es ja im Literaturbetrieb nicht immer weit her ist. Jedenfalls würden "um so manches seichter[e]" Meere dem "anstand" seine Aufgabe erleichtern, mit dem "handstand" "in see zu stechen". Die Bewegung der beiden bildet die Gestik des Schreibens. Schreiben ist bei Priessnitz ein physischer Vorgang, ein Match mit der Sprache. Was er in einem frühen Manifest "Gestik" nannte, hat viel mit jener von Malern wie Arnulf Rainer oder Dieter Rot zu tun.
11. "in see zu stechen () durch die wellenschaft hindurchzubrechen". Subjekt
Vom Anstand wird gefordert, "in see zu stechen, / sozusagen durch die wellenschaft hin durch zu brechen / und zu singen, was ihm sonsten nur obliegt zu schildern". Das "in see [] stechen" ist also eine Voraussetzung des Singens und man darf von dieser Voraussetzung annehmen, dass sie für den Beginn des Schreibens steht, wenn es in diesem Falle auch ein Notenschreiben oder Komponieren wäre. Nur in "manche[n] unsrer um so manches seichter[en]" Meere wäre solcher Schreibanfang gewährleistet. Man unterschätze jedoch ja nicht die Widerstände, die es dabei zu überwinden gilt: mehr als die bei der freudschen Gedächtnisbahnung erforderlichen, heisst es doch jetzt "durch die wellenschaft hin durch zu brechen"(8). Auch "unsre um so manches seichter[en] meere" sind kein wirtliches Medium für die Schrift des Gesangs. Schon hier kann man sehen, dass der "anstand" gegen sein eigenes Medium schreiben, es auch stechen, mit ihm kämpfen muss. Alle Abenteuer, von denen seine Schrift etwas auf uns kommen lässt, bestehen in diesen harten Bandagen, die die beiden Gegner mittels des Handstandes einander austeilen werden. Medien, Gegenstände aber auch Substanzen des Schreibens, setzen die Meere diesem Vorgang auch Widerstände entgegen, seien es nur jene, die jede Bahnung des Gedächtnisses überwinden und doch auch einrichten muss.(9) Der Neologismus "wellenschaft" klingt fast familiär, wie "Sippschaft" oder "Wirtschaft", und unterscheidet sich von den naturalistischen "wellenmassen" im vierzehnten Vers sowie von den quantenmechanischen "wellenbündeln" der drittletzten Zeile: "sozusagen durch die wellenschaft hin durch zu brechen []" Das Durchbrechen der "wellenschaft" (im Vers 4) evoziert das grosse frühe Gedicht "+++" mit seiner Anfangszeile "zerbrach (der strom) & lippenblau". Das Durchbrechen der "wellenschaft" geht nicht ohne Gewalt vor sich, es schafft eine Diskontinuität, nämlich die des aus der Signifikantenmasse geborenen Subjekts, das natürlich vom grammatikalischen Subjekt unterschieden werden muss.(10)
12. Schildern und Singen
Der erste Abschnitt läuft in einer Gegenüberstellung des defensiven "schildern[s]" und des offensiven "singen[s]" aus (Vers 5). Das Verb "schildern" kommt aus der Heraldik, Schilder werden bemalt als Kürzel eines Heldenepos. Beim "singen" gibt man sich hingegen dem anderen hin und in der Gaunersprache bedeutet dieses Verbum noch dazu "gestehen". Der Balladensänger ist ein singender Erzähler.
13. Topologie
Dieser Sänger schlägt im zweiten Abschnitt (Vers 6-15) die Hypothese "um so manches tiefer[er]" Meere vor. In den vom irrealen Konditionalsatz gebildeten Weltfiktionen(11) kann man auf der Skala von Seichtheit und Tiefe um Grade von "um so manches seichter[en]" Meeren zu "um so manches tiefer[en]" überwechseln. Es scheint zwischen beiden sogar ein kontinuierlicher Übergang zu bestehen, was den Verdacht nahe legt, dass diese Meere auch Metaphern des dichterischen Verstandes ("anstand" und "Verstand" sind lautlich nahe verwandt) sind. Wir schlossen aber oben die Idee des Meeres als kognitiver Metapher aus. Die Metaphern der Meere verleugnen deren Weltlichkeit nicht. Auch Priessnitz' "meere" sind im Grunde feindliche Weltgegenden. "Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt", schreibt Kafka, und fügt dem hinzu: "Man darf niemanden betrügen, auch nicht die Welt um ihren Sieg". Tiefe und Seichtheit schliessen sich also nicht aus, was ja die Gradierungen in "um so manches" (seichter oder tiefer) zeigen. Es ist, als ob beide Quantitäten wie in einer Anamorphose in einander übergehen könnten. Aber diese Anamorphose ist nur auf Grund der Sprache denkbar.(12) Statt der optischen Metaphern sollte man die in der priessnitzschen Konstruktion entstehende Topologie herausarbeiten. Um so manches seichtere Meere werden dort von um so manches tieferen im ersten und im sechsten Vers unterschieden, aber auch miteinander verbunden, und zwar durch die von den beiden irrealen Bedingungssätzen getragenen Fiktionen. Die um so manches seichteren liegen dabei unter oder über den um so manches tieferen. Wenn sie aber verbunden sind, bilden sie eine Oberfläche. Es heisst ja im fünften Vers, dass nur bei um so manches seichteren Meeren in See gestochen und gesungen wird. Ohne Gesang wüsste man gar nicht, was bei um so manches tieferen Meeren vor sich ginge. Diese tieferen Meere hängen also von den seichteren ab, und auch mit ihnen zusammen. Kann man dann aber, wenn einmal in See gestochen wurde, noch zwischen den seichteren und tieferen unterscheiden? Weiss man dann, wo man ist? Befindet man sich dann nicht auf einer Oberfläche, wo die Unterscheidung von oben und unten gar keinen Sinn mehr hat?
14. Überblick
Bevor man sich auf den klippenreichen zweiten Abschnitt einlässt, sollte man einen Überblick über die gesamte Ballade gewinnen. In der Mitte des zweiten Abschnitts (Vers 11) singularisieren sich die Meere zum "meer", das dann am Schluss des zweiten Abschnitts den "anstand" beeinträchtigt: so dass dann das meer mit seinen vielen wellenmassen in so manchem maasse ihn dran hindre, dass er töne:
15. Woran hindert das Meer den Sänger. Mehr - meist - meistern
Hier stellt sich die Frage, woran er gehindert wird. Am "tönen"?. Wäre das der Fall, wie käme dann der Rest seiner Botschaft auf uns. Er könnte also auch daran gehindert werden, "mehr als dieses meer zu meistern". Und warum? Wer oder was "hindert" ihn am Meistern? Das Verbum "meistern" enthält "meist", den Superlativ von mehr. Wenn ihn etwas hindert, ist es "das meer mit seinen vielen wellenmassen" (Vers 14), und zwar hindert es ihn "in so manchem maasse" (Vers 15); die "wellenmassen" scheinen also "in so manchem maasse" vom Versmass nicht gezügelt werden zu können. Im Vers 25 taucht das Verbum "hindern" wieder auf. Nun hindert ihn "dieses schöne wogen, "das gewellte auch nur anstandshalber zu begreifen" (Vers 26).
16. Komplexität
Natürlich hat ein Dichter das Recht, zwei Nebensätze von einem Verbum ("hindern") abhängen zu lassen, also a) "mehr als dieses meer zu meistern" und b) "dass er töne". Priessnitz trägt mit seinem Gedicht der "Komplexität der Existenz" Rechnung. Der junge Beckett hielt die Komplexität für eine der wichtigsten Ergebnisse der Moderne. Er fand sie bei Racine, Dostojewski, Proust und Gide.(13)
17. "dass es ihm unmöglich scheine, sie als bild zu fassen"
Der Sänger stellt nun keine neue irreale Bedingung mehr; der erste Konjunktiv, den er verwendet, dient der indirekten Rede, in welcher er, der "anstand", seine Reserven, Bedenken und Proteste formuliert. Er beteuert die Unmöglichkeit, "sie [die ,meere'? die ,oberfläche'? die ,wellenmassen'?] als bild zu fassen". Dieses Bild erwarte man jedoch von ihm, man erwarte, "dass er es durch manche zwänge / doch in seinen griff bekomme". Schon im Vers 9 ist von Bildern die Rede, "die er nur erzwungen". Das Meer rückt nun dem "anstand" auf den Leib und "drängt" ihn mit "faulen zwängen", es doch abzubilden.
18. Der Drang zum Bild
Es überschätze dabei aber sein "geschick", das doch in etwas anderem bestehe "als in solchem tausche". Der Text sagt "ab[-]bestehe", ein aus dem Nomen "Abstand" gebildetes Verbum. "Abstand" ist eine Art geometrisches Gegenteil zu "Anstand". Um welchen Tausch handelt es sich? Den Tausch zwischen dem "dränge[n]" des Meeres und seiner Abbildung? Bei Freud ist der Drang eine der vier Komponenten des Triebes (Quelle, Drang, Objekt und Ziel). Beckett spricht von den Malereien als Übersetzungen des absurden und mysteriösen Drängens zum Bild. Lacan stellt eine Beziehung zwischen dem Bild und der Suizidstrebung (Todestrieb) her. In den Versen 25-26 behauptet der Sänger, "dass [] dieses schöne wogen ihn [den Anstand] [] hindre, / das gewellte auch nur anstandshalber zu begreifen". Das "gewellte" enthält die Welt. Sein "tuen" werde dadurch etwas gemindert. Man kann diese Minderung in einen dialektischen Gegensatz zu dem "durch niederungen ja vermehrte(n)" Meer bringen.
19. "wären wie sie sind, die meere, meere".
Schliesslich "schweift" der Verstand zu seinen beiden letzten Hypothesen ab, die den vierten und letzten Abschnitt dominieren Verse 29-30):
dass er, wären wie sie sind, die meere, meere, nämlich sozusagen grosse schlabbrigfeuchte reize,
Notieren wir zuerst, dass die beiden Hypothesen des irrealen Konditionalsatzes verschiedene Einstellungen (propositional attitudes) des "anstand[s]" zur Folge haben, die ab Vers 31 aufgezeichnet werden. (Man muss dabei immer im Gedächtnis behalten, dass der Balladensänger das Sprachrohr des Anstands ist.)
20. meere = meere = "schlabbrigfeuchte reize?
In der ersten Hypothese kontrastiert der Konjunktiv des irrealen Bedingungssatzes mit dem Indikativ der Identitätsaussage: a) "wären [] die meere, meere"; b) "wie sie sind" (die "meere" sind "meere). In Gertrude Steins a rose is a rose is a rose wird die Identität durch den Paroxysmus der Wiederholung in Frage gestellt, im Vers 30 von triest durch die Persiflage einer behavioristischen Definition: (die "meere" sind) "grosse schlabbrigfeuchte reize". Der Konjunktiv im Vers 29 "wären, wie sie sind []" hebt die definitorische Identität von "meere[n]" und "schlabbrigfeuchte[n] reize[n]" auf. Meere sind einfach keine Reize, aber sie sind auch nicht einfach Meere. Oder straft die vom Indikativ im Komparativsatz getragene Identität den Konditionalsatz Lügen (14)? Die behavioristische Reduktion der "meere" auf "reize" scheint den "anstand" herzlichwenig zu interessieren. Er sieht keinen Anlass dazu, "dass er ihren trübsal kläre". Er spreizt sich dagegen (die "reize" reimen mit dem von der indirekten Rede des Sängers verlangten Konjunktiv "spreize").
21. Der Anstand, "eine feste brücke"
In den Versen 33-35 lehnt der "anstand" ein anderes Bild des Meeres ab. Er habe "eigentlich als feste brücke" etwas zu transportieren, nämlich "was da angesammelt aus so vielen wellenbündeln". Der Anstand soll also das "aus so vielen wellenbündeln" "angesammelt[e]"(15) tragen, transportieren, und zwar "als eine feste brücke". "was da angesammelt aus so vielen wellenbündeln" kann nur eine Paraphrase des Meeres sein. Er müsse es aber unterdrücken. Aber warum? Die Gründe für diese Unterdrückung stehen im Schlussvers, sind aber rätselhaft formuliert: "weil es manchmal nicht so leicht sei, sich durch sie zu schwindeln." Zuerst ist jenes "angesammelte" ein inadäquates Bild des Meeres, ein Trugbild. Sodann unterdrücke er, der Anstand, das "aus so vielen wellenbündeln" Angesammelte, weil er einen Schiffbruch erlitten hat.
22. Dichtung als Schiffbruch
Dichtung ist nicht die Photographie des Meeres, seine Abbildung, sondern ein Schiffbruch.(16) Der Sänger sagt, um wessen Schiffbruch es sich da handelt: um den des "sich", des Subjekts. Für dieses ist es "manchmal nicht so leicht, sich durch sie [die ,wellenbündel'] zu schwindeln"(17). Der Dichter, und jeder Künstler auch, das weiss man seit Beckett, masst sich nicht an, die Dinge zu beherrschen wie der Wissenschaftler, oder zu sagen, was sie sind, wie der Philosoph. Und wenn er sagt, "wie sie sind" (die "meere"), so tut er das nur, um die Dummheit einer Welterklärung blosszustellen. Er kann höchstens schreiben, "wie es ist", wobei das "es" immer auf die Implikation des Subjekts hinweist. Ein Dichter kann nur schreiben, wie er scheitert. Jeder auf seine Art. Priessnitz thematisiert in mehreren seiner Gedichte und Prosastücke das Scheitern des Dichters am Leben selbst, indem er zum Beispiel vom Geburtstrauma des Subjekts oder von seiner eigenen Krankheit schreibt. Und wer könnte leugnen, dass grosse Dichter am Leben selbst zerbrochen sind: Tasso, Hölderlin, Poe, Rimbaud, Trakl, Mandelstamm, Celan, Ist es notwendig festzustellen, um jedem Missverständnis vorzubeugen, dass das Scheitern der Dichter auf dem Gegenteil von Verzicht beruht? Mallarmé ist an seinem Livre gescheitert, weil er mehr verlangte als ein Buch; Musil am Mann ohne Eigenschaften, weil er die Möglichkeiten des Romans überforderte; Worstward Ho, ein Werk, in welchem Beckett seine Theorie des Scheiterns liefert, ist ein Zeugnis des Scheiterns am Scheitern: For want of worser worst ("Mangels schlimmeren Schlimmstem"). (18) Er erzeugt damit neue Qualitäten.
23. Das Scheitern des Subjekts
Es ist also manchmal nicht leicht, "sich durch sie [die ,wellenbündel']" hindurch "zu schwindeln". Warum müsste er (der Anstand) sich durch die Wellen hindurch schwindeln? Warum würde er seinen Untergang, seinen Schiffbruch, riskieren, wenn er nicht schwindelte. Nun sagt der letzte Vers gerade nicht, dass der Anstand nicht schwindelt, weil das ja mit seinem Wesen unvereinbar wäre. Der Schlussvers spricht vielmehr von der Schwierigkeit des Anstands, sich hindurch zu schwindeln. Man könnte diese Schwierigkeit mit jener vergleichen, die man hat, wenn man illegal eine Grenze überschreitet. Ohne Schwindeln geht es dabei nicht. Das Subjekt durchbricht die Schweigemauer der Zensur nur dann, wenn es in der Sprache etwas verändern kann, das ihm eine Existenz gibt. Und diese Veränderung gelingt nur mittels einer List, die von den Sprachgesetzen aus gesehen ein Schwindel ist.
24. Ulysses
Ulysses war vielleicht die erste Inkarnation des Subjektes. Ulysses muss in seinen Reden und mit seinen Taten immer neue Listen erfinden, um zu überleben. Dabei bezieht er sich aber, wie Jean Bollack schreibt, als Einziger "auf ein Wissen, das er nur mit der Göttin Athene teilt"(19). Ulysses kommt nach Ithaka zurück, aber Stephen Dedalus, der in "Eumaeus" (Ulysses, Kapitel XVII) sowohl die Rolle des Telemach spielt als auch die des Ulysses mit Leopold Bloom teilt, lehnt es in der Ithaka-Episode ab, in Blooms Wohnung, Eccles Street (Ithaka) zu übernachten und dort sogar Unterkunft zu nehmen.(20) Schon am Anfang von "Eumaeus" fragt ihn Bloom: I don't mean to presume to dictate to you in the slightest way but why did you leave your father's house? - To seek misfortune, was Stephen's answer. (21) Stephen hat kein Zuhause. Ithaka bezeichnet die Wiederkehr des Gleichen (22) und Stephens Heimatlosigkeit, wie die von James Joyce selbst, verleiht ihr erst die Ewigkeit. Er ist aber auch der moderne Prototyp des Schriftstellers, der von seinen Irrfahrten schreibt.
25. Protopoesie statt Metapoesie
Priessnitz hat Ulysses genau gelesen. In seinem Gedicht privilegium minus findet man zum Beispiel die Verse "wir trügen die krone aus wind / wie die achtung der stadt; / unsere reise, als rose", die auf einen Satz am Ende des Eumaeus-Kapitels verweisen könnte, in welchem sich der Ausdruck in the city's esteem findet.(23) Vor allem aber ist Joyce der Autor, der seine eigene Geburt in Frage stellte - darauf haben seine besten Exegeten, von Samuel Beckett bis Jacques Aubert hingewiesen. Priessnitz nimmt diese Herausforderung an. Mit triest hält er keine metapoetische Rede sondern eine protopoetische. Seine Vorgangsweise ist jedoch keineswegs axiomatisch. Er interessiert sich in diesem Gedicht vielmehr für die poetischen Prozesse unter Bedingungen, in denen die Metaphorisierung des Subjekts nicht gelingt. Damit stellt er sich auch den positivistischen Schreibmethoden entgegen. Aus Liebe zur Wissenschaft! Der rätselhafte Schlussvers wird also klarer, wenn man mit der Theorie des Subjekts arbeitet. Unter der Hypothese der seichteren Meere, in der Einleitung, taucht das Subjekt ja (im Vers 4) auf: "sozusagen durch die wellenschaft hin durch zu brechen []" Doch in den vier Schlussversen wird dieser Erfolg des Durchbruchs zurück genommen. Vom Anstand wird nun gesagt:
auch wenns gälte, dass er eigentlich als feste brücke, was da angesammelt aus so vielen wellenbündeln quasi transportiere, dass ers aber unterdrücke,
Die "feste brücke" im Vers 33 könnte auf die "feste Burg" im Lutherlied anspielen, aber auch auf die expressionistische Verballhornung des Verses einer Ballade von Johannes Jeep, die man auf der letzten Seite von Joyces "Eumaeus" findet: Und alle Schiffe brücken Er unterdrücke es eben, weil es manchmal nicht gelingt, sich durch die Wellenbündel hindurchzuschwindeln. Ohne Schwindel gibt es aber das Subjekt nicht.
26. Wirbel; Zwei Bildströme
Der seefahrende Leser kann die Klippen des zweiten Abschnitts nicht umsegeln. Dort liegt die Schlüsselstelle. Der zweite Abschnitt flechtet zwei Bilderströme ineinander, bildet einen Zopf mit ihnen. In seinem Ausgangsvers (Vers 6 des Gedichts) nimmt der irreale Bedingungssatz tiefere Meere an. Unter dieser Bedingung würde der Anstand Bilder liefern. Die Beschreibung dieser Bilder im Vers 7 ist sebstbezogen (self-referential), sie enthält den Bilderstrang, von dem sie spricht. Aber diese "bilder" bestehen ,nur' aus Sprache, nämlich aus Gleichlauten und Wiederholungen. Wir lesen also (Verse 7-8): "bilder lieferte, die mehr um manches manchen bildern / glichen, []"
27. Kein Bild von "mehr"
Das Adverb "mehr" (24) und das Substantiv "meer" sind homophon, das Substantiv "bilder" wird in "manchen bildern" wiederholt, doch ist diese Wiederholung an eine Differenz geknüpft, da ja von den (ersten) "bilder[n]" gesagt wird, sie glichen "mehr um manches manchen bildern". Dem Relativsatz in den Versen 7-8 fehlt das Wort, das den Komparativ rechtfertigen würde: ,mehr als was?', könnte man fragen. Dieses Fehlen eines Signifikanten verstärkt unsere Annahme, dass "meere" (im vorhergehenden Vers 6) ein Bild von "mehr" ist. "mehr" ist also sowohl das abzubildende Sprachobjekt als auch die sein Bild ("meere") rechtfertigende Buchstabendifferenz, denn "meere" hat je mehr Buchstaben als "meer". Kann es aber von mehr ein Bild geben? Haben wir es hier nicht mit dem Objekt a Lacans zu tun, von dem es kein Spiegelbild gibt? Die "um so manches tiefer(en)" meere ermöglichen es dem Anstand Bilder zu liefern, aber Bilder von etwas, von dem es gar kein Bild geben kann, nämlich von "mehr".
28. Das Komptromissonett. "quell (wird) zum meer" - "in dem ein mehr sich unverhohlen brüstet"
In Priessnitz' nachgelassenen KOMPROMISSONETT FÜR MEINE BRUST, das die Herausgeber des Nachlassbandes auf Weihnachten 1973 datieren liest man die folgende erste Strophe:
wenn's manchmal nach erkenntnis mich gelüstet, passiert's, dass es mir um die brust recht schwer wird, ja, dass der quell des schreibens mir zum meer wird, in dem ein mehr sich unverhohlen brüstet;
Wir finden in dieser Strophe nicht nur das "meer", welches auf das gleichlautende Adverb "mehr" verweist. Der "quell des schreibens" ufert zum "meer" aus; doch dieses hat seine Grenzen noch keineswegs gefunden, brüstet sich in ihm doch "unverhohlen" "ein mehr". Das Adverb "unverhohlen" enthält das Adjektiv "hohl". In der folgenden Strophe ist von "Leere" die Rede! "Mehr" lässt also "das meer" nicht in Ruhe.
29. Von der Leere und von der Libido
Die zweite Strophe ist nicht minder interessant:
was aber heisst, dass sich die brust entrüstet, dass sie so wogen muss, die sonst so hehr ist wo sie bekanntlich grösstenteils mehr leer ist - und ahnt, dies tosen sei befristet
Hier kommt es natürlich auf den dritten Vers an. Der Dichter mockiert sich nicht nur über die "hehre Brust" der Klassiker. Sein Spott erlaubt ihm, das Adjektiv "leer" ins Spiel zu bringen. Die Leere steht nicht so sehr dem von "mehr" ins Unendliche getrieben "Meer" gegenüber, sie bewohnt vielmehr das wofür "das Meer" steht. Lacan schreibt von der Libido, aus deren Theorie er später die des Geniessens ableiten wird: "Ihre sexuelle Farbe () ist Farbe aus Leere, ins Licht eines Aufklaffens gehängt". Dieses Aufklaffen ist der Raum des Geniessens, dort, wo es vom Lustprinzip begrenzt wird. Das Lustprinzip ist klar in der dritten Strophe angesproche:
wodurch, dass ich sie nicht zu sehr vergräme, indem ich diese lust mir kaum verleibe, ich mich zu jenem kompromiss bequeme
und ihr zuliebe in sonettform schreibe, dass trotz des wogens ich sie nicht beschäme und die erkenntnis bei uns beiden bleibe.
Man darf annehmen, dass es sich im Kompromissonett um ein Liebesgedicht handelt. Vielleicht um nicht erfüllte Liebe ("indem ich diese Lust mir kaum verleibe"). Die Herausgeber sprechen im Apparat des Nachlassbandes eine Widmung in HS (Handschrift). Die Erotik ist hier an Theorie geknüpft. An eine Theorie vom Geniessen als "Quell" des Schreibens.
30. Die Leere aufgrund des Fehlens der sexuellen Beziehung. Leeren (Meere), Quellen des Schreibens
Im Jahre 1973 entdeckte somit der 28 jährige Priessnitz, auf dem Weg seines Dichtens, einen Grundsatz jedes kompromisslosen Schreibens. In ihm kann nicht die Sprache auf die Welt bezogen werden sondern nur auf eine bestimmte Leere. Nicht irgendeiner, sondern der aufgrund des Fehlens der zwischengeschlechtlichen Beziehung bestehenden Leere. Sie ist die Matrix anderer Leeren, jenen der Abwesenheit "echter Kommunikation" zwischen den Menschen oder der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Letztere wurde bekanntlich schon vom jungen Beckett in seinen Vorlesungen über Racine proklamiert. Priessnitz weiss damals, 1973, auch schon, was Lacan nur ein paar Jahre früher theoretisch klar formulierte. Die im ersten Vers angedeutete Wissbegierde (Lust nach Wissen) ist sexuell gefärbt. Sie führt zu schwerer, aufgeblähter Brust. Das damit angedeutete Phallussymbol wird jedoch gleich und ganz im Sinne Lacans entlarvt. Der Phallus gibt der im dritten und vierten Vers zum Vorschein kommenden Libido ihre Richtung ("quell des schreibens", der "zum meer wird", sowie "mehr", das sich darin "brüstet"). Aber das ist nicht alles. Der Dichter erkennt auch seine Funktion als Maske, hinter der sich die Leere der Brust verbirgt. Die Leere - man sollte von den Leeren sprechen, wie Priessnitz später von den "meeren", sind aber die conditia humana, einziger "quell des schreibens".
31. Die "Chimäre der Sprache (Karl Kraus). Mehr und Meere
Kehren wir nach triest zurück: Somit gäbe es in den Versen 6-7 folgende, aus vier Termen bestehende Beziehung: "manche unsrer meere" - "bilder" (die der "anstand" lieferte) - "mehr" - "manche[n] bilder[n]". Im Relativsatz im Vers 7 hat man folgende grammatikalische Konstruktion: "die mehr um manches", und nicht "um manches mehr". Das Adverb "mehr" hat also nicht nur die Funktion eines Komparativs, es wird wie ein Substantiv behandelt, wie "meer". Es ist also ein zu vergleichender Term in der Reihe der Bilder: die vom "anstand" zu liefernden Bilder würden bei "um manches tiefer[en]" "meere[n]" nicht nur "manchen bildern" um manches mehr gleichen. Sie würden auch (dem) "mehr" gleichen. Was aber gleicht "mehr" um manches mehr, wenn nicht "meere"? Sie haben einen Buchstaben mehr als "meer" und "mehr". Die besprochenen Verse werfen eine weitere Frage auf: kann ein Bild einem anderen Bild mehr als einem dritten Bild gleichen? Gibt es Grade von "gleichen"? Nur im Reich der Signifikanten lässt sich eine solche Gradierung denken. In der Logik sind zwei Dinge entweder gleich oder verschieden. Das Hilfszeitwort "sein" und das Possesivpronomen "sein" sind gleichlautend aber nicht gleichbedeutend. Sie gleichen einander also im ersten Fall, nicht aber im zweiten. Sie gleichen sich also nur in manchem. In Wirklichkeit ist kein Signifikant einem anderen gleich; Synonyme begründen keine Identität, der Morgenstern und der Abendstern haben gleiche Bedeutung aber nicht den gleichen Sinn. Weil also die Signifikanten Differenzen bilden, kann der Dichter Bilder erfinden, "die mehr um manches manchen bildern glichen". "meere" also eines jener vom "anstand" gelieferten Bilder, die (bei "um so manches tiefer[en]" "meere[n]") "meer" (einem von "manchen bildern") "mehr um manches glichen". Und dasselbe kann man von den Indefinitivpronomen "manches" und "manchen" sagen. "Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt."(25) Einer ihrer Exzesse besteht in der Möglichkeit der Anhäufung von Attributen immer genauere Definitionen zu schaffen, die jedoch nie auf die Identität des zu definierenden Wortes mit den definierenden Wörtern führt. Der Plural "meere" im Gedicht des Reinhard Priessnitz zeugt allein schon von diesem Überschuss (26). "meere" sind der Inbegriff des Vielen, des Unendlichen, in dem es noch immer Unterschiede zwischen mehreren, unendlich vielen, transfiniten Zahlen gibt.
32. Die Pluralität der Meere
Indem Reinhard Priessnitz von der Mehrzahl ausgeht und nicht von der Einzahl "Meer", macht er gleich klar, dass er es nicht auf das Wahrnehmungsbild, das sich ihm darbietet, abgesehen hat. Er kehrt ihm den Rücken. Das "meer" taucht als Begriff erst später, ab Vers 11 auf. Die "meere" sind schon von der Sprache, der Literatur, vom Wissen gefasste "bilder".
33. Die zwei Bildstränge und das Unabbildbare
Im zweiten Abschnitt findet man drei am Substantiv "bilder" aufgehängte Relativsätze. Sie sind in den von der Konjunktion "dass" eingeleiteten Nebensatz ("dass er [] bilder lieferte") eingebettet. Es ist nicht von vornherein klar, von welchen Bildern der zweite und der dritte Relativsatz abhängen. Hängt also der zweite Relativsatz der Verse 8 und 9 von den zu liefernden Bildern ab oder von "manchen bildern" in "mehr um manches manchen bildern"? Dem Anschein nach definiert der erste Relativsatz nur die gelieferten Bilder. Aber in Wirklichkeit gleichen die ersteren (die zu liefernden) um manches mehr (den) "manchen bildern". So sind sie also doch unterscheidbar, und es stellt sich die Frage, von welchen der beiden "bilder" der zweite und der dritte Relativsatz abhängen. Folgende Möglichkeiten bieten sich an: 1) der zweite Relativsatz hängt von den zu liefernden Bildern ab; 2) der zweite Relativsatz hängt von manchen Bildern ab; 3) der dritte Relativsatz hängt von den zu liefernden Bildern ab; 4) der dritte Relativsatz hängt von manchen Bildern ab; 5) der dritte Relativsatz hängt von den ausgefallnen Bildern ab. Die Verse 6 bis 9 geben zu erkennen, dass man es mit zwei Bildersträngen zu tun hat: (i) "die ausgefallnen [], die er nur erzwungen"; (ii) "die durch andre seichten sozusagen schiefer [] fielen". Die unter (i) angeführten Bilder sind auch die vom Anstand gelieferten; die unter (ii) genannten Bilder kommen von "manchen bildern" her. Die vom Anstand gelieferten Bilder gleichen den letzteren "mehr um manches", sind aber genau wegen dieser adverbialen Bestimmungen ("mehr um manches") von ihnen unterscheidbar. Damit ist aber auch die Frage der Abhängigkeit der Relativsätze beantwortet: Der zweite Relativsatz (Vers 8) hängt von "manchen bildern" (Vers 7) ab, der dritte Relativsatz (Vers 9) kommt von den "ausgefallnen" Bildern her, die ihrerseits zum Strang der zu liefernden Bilder gehören.
Fassen wir daher die zu liefernden und ausgefallenen Bilder zum Bildstrang A zusammen und die manchen, "durch andre seichten" schiefer fallenden Bilder zum Bildstrang B. Wir konstatieren dann, dass der Bildstrang A die vom Anstand auf dem Weg der Sprache, mittels Homophonie und Wiederholung künstlich fabrizierten Bilder enthält. (Beispiel: "mehr" - "meere"). Diese Beobachtung wird vom Vers 9 bestätigt, in welchem der Sänger auf dem forcing bei der Erzeugung dieser Sprachbilder besteht: "als die ausgefallnen fielen, die er nur erzwungen, []" Der Bildstang B besteht aus Bildern, die in der Sprache nicht direkt materialisiert sind, weil die Sprache zu solcher ,Abbildung' gar nicht fähig ist. Die geniale Idee des Reinhard Priessnitz besteht darin, die Anwesenheit dieser unsichtbaren Bilder, ihrer ,schwarzen Materie', könnte man sagen, im Gedicht zu zeigen. Er hätte Wittgensteins berühmten Satz so abwandeln können: ,Was man nicht sagen kann, das muss man zeigen'.
Vom Bildstrang B kennt man sozusagen nur den Weg und die Dynamik. Man weiss, dass sie - immer die im Konditionalsatz eröffnete Hypothese vorausgesetzt - "durch andre seichten [meere] sozusagen schiefer als die ausgefallnen fielen". Ihre Bewegung ist also die des Fallens. Sie fallen durch "andre seichten [meere] sozusagen schiefer". Dieses Bild evoziert das optische Phänomen des vom seichten Wasser gebrochenen Stockes. Die Nominalgruppe "andre seichten" deutet aber auch auf die Herkunft dieser Bilder hin. Sie haben mit den in der Einleitung (Verse 1-5) herbei gewünschten "seichter[en]" "meere[n]" zu tun, also auch damit, dass der "anstand" mit dem "handstand" dort leichter "in see []stechen" könnte. Gewiss spricht der Vers 8 von "andre[n] seichten", doch das ändert nichts daran, dass jene unsichtbaren Bilder des Stranges B durch "seichten" fallen, wie das "in see [] stechen" auch nur unter der Bedingung der Seichtheit vor sich gehen kann. Aber hat die Seichtheit nicht gerade mit der Möglichkeit zu tun, dass zwischen den Lautkomponenten der Signifikanten sowie zwischen Buchstaben Bildbeziehungen hergestellt werden können?
34. Vor- und Nachbilder
Der Vers 7 sagt klar, dass die "manchen bilder" des Stranges B den gelieferten Bildern des Stranges A vorausgehen, die Vor-Bilder der vom Anstand fabrizierten (zu liefernden) Bilder sind. Es wird von ihnen nicht gesagt, ob sie aus tiefen oder seichten Meeren kommen, nur, dass sie "durch andre seichten schiefer als die ausgefallnen fielen". Es ist, als ob sie die "andre[n] seichten" durchquerten. Daher behaupteten wir schon weiter oben, dass die beiden Bilderströme miteinander verflochten sind. Diese Verflechtung ist umso dichter, als der Strang B und der Strang A auf der Gleichlautebene miteinander kommunizieren, zum Beispiel im Vers 7/8: "[] die mehr um manches manchen bildern / glichen []". Die blosse Wiederholung in "manches manchen" spricht für diese Durchdringung der beiden Stränge. Auch der Reim - "tiefer" (Vers 6) und "schiefer" (Vers 8) - spricht für diese Verflechtung. Die unsichtbaren Bilder des Stranges B fliessen sozusagen durch die mittels der Homophonie sprachlich erzeugten Bilder des Stranges A.
35. Untiefe. Der Knoten
In triest findet man nirgends das Substantiv ,Tiefe', als Gegenteil der "seichtheit" (Vers 10), wohl aber das Adjektiv "untief" (im Vers 13), das sowohl "wenig tief" als auch "abgrundtief" bedeuten kann. In diesem Adjektiv ("untief") verknoten sich die beiden Bilderstränge explizit. triest ist mehr als ein Gedicht, nämlich ein Manifest für ein Schreiben mit Anstand. Der "Anstand" sollte nicht als eine moralische Kategorie aufgefasst werden, sondern als eine ethische. Priessnitz weist in triest erneut auf "den quell eines schreibens" hin, das den Durchbrüchen der Moderne (Proust, Joyce, Beckett) gerecht wird. Priessnitz leiset keinen Verzicht. Wie wir zu zeigen versucht haben, bringt er das Undarstellbare, das Nicht-Abbildbare in seinen Text ein, das was keine mimicry darstellen kann.
36. Bilder aus der Tiefe und seichte Bilder
Wir haben also "Seichtheit" folgenden Bildern zugeordnet: den buchstäblichen, an die vom Anstand gelieferten und an die durch Schrift gebundenen Bilder. Dem scheint aber der Vers 6 zu widersprechen, in welchem ja tiefere Meere gefordert werden, damit der Anstand Bilder liefere (27). Die gelieferten, "erzwungenen" Bilder scheinen also aus der Tiefe der - "um manches tiefer[en]" - Meere zu kommen. Der Widerspruch hebt sich aber auf. Denn in den Versen 10, 11 und 12 räumt der Text ein:
wo hingegen grade seichtheit solche - durch bestechung, mehr als dieses meer zu meistern, das durch niederungen ja vermehrtes sei - äh, mindrer, sozusagen, sprechung an die oberfläche drücke, nämlich untief schöne,
Die verschachtelte Sequenz dieser drei Verse leistet auch dem geduldigsten Leser beträchtlichen Widerstand. Der Schlüssel zu diesem Schloss liegt im Adjektiv "solche" im Vers 10. Von einem logischen Standpunkt aus kann es nur drei Substantive vertreten, nämlich: "bilder", "meere" oder "sprechung". Nur wenn man die "bilder" oder die "meere" wählt, bekommt die Apposition "nämlich untief schöne" (Bilder? Meere?) ihren Sinn. Der Dichter darf es sich leisten, die Referenzen zu verschleifen, vor allem, wenn eine doppelte Referenz aus der Logik seiner Konstruktion hervorgeht - und das ist hier genau der Fall. Denn man kann mit Recht behaupten, dass die im Vers 7 stehenden "manchen bilder", die wir auch Vor-Bilder nannten und sie dem Strang B zuordneten, nichts anderes sind als die "meere" im Vers 6, das heisst "manche unsrer meere", die "um so manches tiefer" erwünscht werden. Wie das nun, wird man fragen? Die Antwort klingt wie ein Trick, aber es ist der Trick des Dichters. Das Substantiv "Meer" hat ein ,e', wo das Adverb "mehr" ein ,h' hat. Aber die "meere" haben auch "manches", nämlich den Buchstaben ,e' mehr als das Adverb "mehr". So sind also die "meere" auch Bilder von "mehr", weil sie mehr haben als "mehr". Wem diese Herleitung an den Haaren herbeigezogen erscheint, der sollte die Funktion des Adjektivs "mehr" in diesem Gedicht nicht übersehen. Dieses Wort ist tatsächlich die Grundzelle oder das "Ur-Ei" der ganzen Ballade (28). Nur stellt sich die Frage, was zuerst kommt: die Henne oder das Ei. Priessnitz schafft im Vers 7 einen Chiasmus, oder deutlicher ausgedrückt eine Art Wirbel, bei dem man nicht mehr zwischen dem Bild und seinem Objekt (dem, was wir Vor-Bild nannten) zu unterscheiden weiss. Die "meere" sind "bilder" von "mehr", aber da das "mehr" (in der Buchstabenzahl) schon ihnen angehört, verdanken sie ihre Bildhaftigkeit der Differenz, die dieses Wort bezeichnet. Die "seichtheit" dieses Spiels mit Worten "drück[t]" zugleich "untief schöne" Bilder an die Oberfläche. Die "Seichtheit" kann als Synonym der Untiefe aufgefasst werden oder als abgründige Tiefe.
37. Hinderung, Symptom
Der Singular "meer" tritt erst im Vers 11 auf, und zwar gerade im Syntagma "mehr als dieses meer". Dieser Vergleichsausdruck weist nicht nur auf die vom ersten Vers an verlangte Pluralität der (seichteren und später - Vers 6 - tieferen) Meere hin. Die seichteren erlauben es "in see zu stechen" und das Verbum "stechen" kehrt in der "bestechung" des Verses 10 wieder, ein Nomen, das die Buchstabenmanipulationen als Korruption brandmarken aber auch anerkennen, denn erst "durch bestechung" gelingt es "mehr als dieses meer zu meistern". Die "niederungen" gehören zur Seichtheit, könnten aber auch auf den Rückfall in die Einzahl anspielen. In See wurde gestochen und nun ist "mehr als dieses meer" da, einfach "mehr", ein "vermehrtes" also (Vers 12). Aber da es ja nur eines ist, ist es gegenüber der Mehrzahl "mindrer". Die vom Adjektiv "mindrer" implizierte Verminderung greift auf die notwendige "seichtheit" des Sprachspiels zurück und "drück[t]" "sprechung" "an die oberfläche", löst damit aber auch "untief schöne" Bilder aus. Die Wellenmassen dieser Untiefe hindern das Tönen des Sängers. Die hypothetische Struktur des Gedichts, seine Fiktion, erlaubt der indirekten Rede des Sängers den folgenden Widerspruch: einerseits behauptet er, der Anstand sei am Tönen gehindert (29) - "hindre" klingt mit "mindrer" - andererseits töne er trotzdem. Entscheidend ist das Echo zu der an die Oberfläche gedrückten "sprechung" (Verse 12-13), das im Vers 35 erschallt, dort, wo der Anstand - im Gegenteil zur "sprechung" - das "aus so vielen wellenbündeln" Angesammelte "unterdrücke". Das Meer "als nasser träger unsrer trocknen plätze" (Vers 21) schicke dem "anstand" unaufhörlich "schübe", dränge ihn, es doch "abzubilden" (Vers 19). Dem widersteht der "anstand". Er lässt nur Bilder zu, welche im Material der Sprache selbst gefunden werden können, zwischen den Wörtern und zwischen Buchstaben, trocknet durch seine Askese das Imaginäre aus, geht sogar so weit, das "aus so vielen wellenbündeln" Angesammelte zu unterdrücken, als wäre er selbst die Zensur. Aber beschwört er damit nicht gerade das, was nicht geht, die Hinderung, die Hemmung, das Symptom und ihre unsichtbaren Bilder? Macht er nicht mit seiner Reduzierung der Metaphorik auf die metonymische Urzelle von "mehr" und "meer" den Bock zum Gärtner, um das Unendliche durch die Sprache strömen zu lassen?
Anhang: Reinhard Priessnitz triest (30)
wären manche unsrer meere um so manches seichter, hätte es der anstand mit dem handstand leichter leichter, falls erfordernis dereinst an ihn gerät, in see zu stechen, sozusagen durch die wellenschaft hin durch zu brechen und zu singen, was ihm sonsten nur obliegt zu schildern: dass er, wären manche unsrer meere um so manches tiefer, bilder lieferte, die mehr um manches manchen bildern glichen, die durch andre seichten sozusagen schiefer als die ausgefallnen fielen, die er nur erzwungen, wo hingegen grade seichtheit solche - durch bestechung, mehr als dieses meer zu meistern, das durch niederungen ja vermehrtes sei - äh, mindrer, sozusagen, sprechung an die oberfläche drücke, nämlich untief schöne, so dass dann das meer mit seinen vielen wellenmassen in so manchem maasse ihn dran hindre, dass er töne? Dass es ihm unmöglich scheine, sie als bild zu fassen, welches man erwarte, dass er es durch manche zwänge doch in seinen griff bekomme, weil es ja mit faulen zwängen seinerseits ihn e doch abzubilden dränge und versuche, ihn durch manche schübe zu vergraulen, welche es, als nasser träger unsrer trocknen plätze, unaufhörlich schicke, dass er sich daran berausche, dass es aber sein geschick bei weitem überschätze, das in anderm ab bestehe, als in solchem tausche, ja, dass eben dieses schöne wogen ihn um manches hindre, das gewellte auch nur anstandshalber zu begreifen, was, im engern sinn, sein tuen wieder etwas mindre, wo es ihn schon so dazu verleite, abzuschweifen: dass er, wären wie sie sind, die meere, meere, nämlich sozusagen grosse schlabbrigfeuchte reize, keinen anlass sähe, dass er ihren trübsal kläre, weshalb er, erforderlichenfalls sich etwas spreize, auch wenns gälte, dass er eigentlich als feste brücke, was da angesammelt aus so vielen wellenbündeln quasi transportiere, dass ers aber unterdrücke, weil es manchmal nicht so leicht sei, sich durch sie zu schwindeln.
Anmerkungen:
(1) Reinhard Priessnitz: "triest"; in : ders. vierundvierzig gedichte, Linz/Wien : edition neue texte 1978, S. 35
(2)"für ihn war ein dichter ein zeitgenosse aller zeiten", Reinhard Priessnitz über Ezra Pound, in : literatur, gesellschaft, etc. aufsätze ( werkausgabe bd. 3/2), Linz/Wien : edition neue texte 1993, S. 98
(3) Siehe Nietzsches "Hahnenschrei des Positivismus" in : "Wie die 'wahre Welt' zur Fabel wurde", in : ders. Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 6/München dtv 1980, S. 80. Zum Problem des Positivismus in Nietzsches "Fabel" siehe : Jocelyn Benoist, " Nietzsche est-il phénoménologue?", in: ders. Nietzsche, Les Cahiers de l'Herne, Paris : Édition de l'Herne 2000, 2005, S. 200
(4) Thomas Eder, " kleie, premiere, triest : Drei Gedichte Reinhard Priessntz' ", unveröffentlichte Univ. Diplomarbeit, Wien 1994
(5) Ders. op. cit., München: Wilhelm Fink Verlag 2003
(6) Ich danke Thomas Eder dafür, mir die Kopien der Vorstufen zu diesem Gedicht zur Verfügung gestellt zu haben.
(7) Eckhard Rhode machte mich nach der Fertigstellung dieses Textes auf Priessnitz' Gedicht am offenen mehr, dem vorletzten der vierundvierzig gedichte ( S. 52) aufmerksam. Sein Hinweis ist hier besonders wertvoll, da dieses Gedicht auf dem privativen Adjektiv "weniger" aufbaut, dem Antonym des Adjektivs "mehr" in 'triest'. Beide Gedichte haben jedoch den Ikonoklasmus gemein. Siehe die dritte Zeile von am offenen mehr: " gut. weniger schrift. das bild weg;".
(8) Hervorhebung F.K.
(9) Siehe dazu Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie, v.a. das Kapitel 3 des 1. Teiles; in : ders. : Gesammelte Werke. Nachtragsband aus den Jahren 1885 - 1938, Frankfurt : Fischer 1987, S. 391 - 394
(10) Siehe Franz Kaltenbeck : "(kein könig nicht). Vom Geburtstrauma des Subjekts", in : ders. Reinhard Priessnitz. Der stille Rebell, Graz/Wien: Droschl 2006, S. 63 - 82
(11) Im Vers 26 findet man das substantivische Eigenschaftswort 'das gewellte', welches die 'Welt' enthält.
(12) Das tritt besonders in der folgenden Passage zu Tage : "... dieses meer ... das durch niederungen / ja vermehrtes sei..." (Verse 11 - 12)
(13) Siehe Brigitte Le Juez, Beckett avant la lettre, Paris, 2007, Grasset, p. 33
(14) Für sich allein genommen ist die Identitätsaussage des Verses 29 besonders deswegen problematisch, weil wir zeigen werden ( s.u.), dass ab dem Vers 7 eine Bildbeziehung zwischen "mehr" und "meere" hergestellt wird, wobei "meere" ein Bild von "mehr" ist.
(15) Also ein Bild, eine Definition des Meeres.
(16) ".. the first to admit that to be an artist is to fail..", Samuel Beckett, "Three dialogues", in: Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, London: John Calder 1983, S. 145
(17) Hervorhebung F.K.
(18) Samuel Beckett, Worstward Ho. Aufs Schlimmste zu, Frankfurt/Suhrkamp 1989, S. 40
(19) Jean Bollack, Parménide, de l'étant au monde, Lagrasse: Verdier/poche 2006, S. 49
(20) James Joyce, Ulysses. The corrected Text, Harmondsworth: Pinguin, 1986, S. 570
(21) Ebda. S. 506
(22) Jacques Aubert, "Ithaque, Notice", in : James Joyce, OEuvres II, Paris : Gallimard 1995, S. 1766
(23) Ulysses, op. cit., s. 542
(24) Priessnitz beutete das kreative Potential dieses Adverbs schon in "trauriges pudern" aus, ein Gedicht, das so beginnt : "mehrere dunkle wolken wehen herein / die sind so mehrere und so allein".
(25) Karl Kraus, "Die Sprache", in : Hans Wollschläger (Hg.): Das Karl Kraus Lesebuch, Zürich: Diogenes 1980, S. 392
(26) Am Schluss einer frühen Fassung (1820) von August von Platens 'Das Grab im Busento' liest man folgende Verse : "Trag des Königs Ruhm Busento, / Durch den ganzen Ring der Meere".
(27) Die Beziehung des Lautbildes "tiefer" zu dem von "lieferte" wird dem Leser nicht entgangen sein.
(28) Wir gebrauchen dieses Wort natürlich in einem anderen Sinn als dem der Goetheschen 'Ur-Ei' - Vorstellung, die Ballade enthalte "alle drei Grundarten der Poesie", die Thomas Eder in seinem Buch (op. cit. S. 124) erklärt.
(29) Die Funktion des Verbums "hindern" kann mit Becketts Aufsatz "Peintres de l'Empêchement", in : Disjecta, a.a.O. S. 136, erhellt werden, wo man liest : " Est peint ce qui empêche de peindre." ( "Gemalt wird, was am Malen hindert.")
(30) Reinhard Priessnitz, 'vierundvierzig gedichte', Linz/Wien: edition neue texte, 1978 (3. Aufl. 1986 = Werkausgabe Bd.1), S. 35
Franz Kaltenbeck Über zwei Gedichte von Reinhard Priessnitz*
Vor zwanzig Jahren ist Reinhard Priessnitz’ einziger von ihm selbst zusammengestellter Gedichtband erschienen. 1 Mit der Veröffentlichung der ersten großen Arbeiten (+++, innerei, kleine genesis und einiges) in der Zeitschrift Akzente (1965) war Priessnitz schon zu einem Begriff für die aufgeschlossene Literaturkritik geworden. Sein Buch aus dem Jahre 1978 bestätigt seinen Platz unter den besten Dichtern der deutschen Sprache.
Für diejenigen, die ihn Mitte der Sechziger Jahre entdeckt hatten, wurde die Drucklegung jedes seiner Gedichte zu einem seltenen Ereignis. Seinen Freunden zeigte er manchmal »Sachen«, die er in Arbeit hatte.
Er war selbst auch Kritiker, schrieb zahlreiche Artikel über die literarischen Produktionen und Ausgaben seiner Zeit. So las man von ihm Aufsätze über H.C. Artmann, über die große Trakl-Ausgabe; er besprach Arno Schmidts Zettels Traum, Oswald Wieners Verbesserung von Mitteleuropa, Paul Celans Atemwende oder Hans Wollschlägers Ulysses-Übersetzung.
Als Mitarbeiter des österreichischen Filmmuseums kannte er das kompromißlose Kino von Eisenstein, Dsiga Vertow, W.C. Field, Karl Valentin bis Jonas Mekas, Kurt Kren und Peter Kubelka. Sein Zetterl-Interview mit Arnulf Rainer hat Helmut Heissenbüttel begeistert. Er unterstützte mehrere noch unbekannte Künstler mit Katalogtexten.
Als Dichter war er zu streng mit seiner eigenen Kunst. Wer weiß, wieviele Entwürfe er vernichtet hat? Der Nachlaßband seiner Werkausgabe beweist, daß sein lyrisches Werk doppelt so umfangreich ist, wie das vor seinem Erscheinen vorgelegene.
Als dreiunddreißigjähriger gab er dann vierundvierzig gedichte heraus. Wie Rimbaud von der Kabala beeinflußt war, liebte Priessnitz Buchstaben- und Zahlenkombinationen. Er spielte gut Schach. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß bei seiner Titelwahl nicht nur der von ihm oft erwähnte E.E. Cummings mit seinen 100 selected poems, sondern auch sein eigenes Lebensalter Pate standen. Bis heute hat noch niemand das Ordnungsprinzip seines Bandes entschlüsselt. Die Gedichte folgen ja nicht chronologisch aufeinander.
Priessnitz schrieb auch Prosatexte. Nach der Veröffentlichung seines Gedichtbandes sammelte er Material zu einem Roman. Sein Verleger hat sein Werk und seinen Nachlaß in fünf Bänden herausgebracht2. Priessnitz ist 1985 wenige Tage nach seinem vierzigsten Geburtstag an Krebs gestorben.
Fünf Jahre später habe ich in Paris ein Symposion über ihn veranstaltet.3 Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker versammelten sich am Goethe-Institut und am Österreichischen Kulturinstitut, um sein Werk zu untersuchen. Inzwischen widmen sich mehrere Autoren der Erforschung seiner Arbeit. Eine Anzahl seiner Gedichte sind ins Französische übersetzt worden. An einigen Übersetzungen habe ich mitgearbeitet. Eine Auswahl wurde in den der deutschen Dichtung gewidmeten Band der Pleiade aufgenommen. Jedes seiner Gedichte verwebt ein weites und tiefes Wissen. Seine große Belesenheit gestattete ihm, Neues auf dem Boden seiner Kenntnis des Bestehenden zu schaffen.
Die großen Dichter dieses Jahrhunderts haben die Wege der Psychoanalyse gekreuzt. Die einen wurden von ihr angezogen, die anderen abgestoßen. Priessnitz gehörte zu den ersteren. Das heißt nun nicht, daß er von ihr beeinflußt wurde oder sie auf ihn angewendet werden sollte. Die Berührungspunkte liegen tiefer. Wo, soll an zweien seiner Gedichte gezeigt werden.
reise
ins zarte feuerland
des frühlings, mein tal,
das uns milde wärmt
und öffnet unseren wünschen
knospen; durch den sommer
weiter, sommersprossig die
wiese, und da kleben wir,
harz an harz; in den halb-
schatten des herbstnach-
mittags, dir durchs haar,
der uns die worte tönt;
bis in ein lappland der lip-
pen, dort, wo uns zärtlich,
als flocken, der schnee
treibt…
reise dürfte aus dem Jahr 1968 oder 1969 stammen. Es ist ein Liebesgedicht. Das Wort „reise“ kommt in mindestens zwei anderen Gedichten vor: In privilegium minus (»unsere reise, als rose, // vielblättrig, blühte wo immer / wir führen, königin irrfahrt, / «). Hier führt die Reise vom Narzißmus des Traums bis zu seinem Auseinanderbrechen.4 In kapitän siebenstrophig hat Priessnitz eine ironischere Reise beschrieben (»meiner rose fehlt wind«), womit er, ernüchtert, auf Das trunkene Schiff antwortet. Auch spielen beide Gedichte auf Becketts unbewegliche Reisen an, nimmt doch der irische Dichter in Mercier et Camier der Metonymie den Wind aus den Segeln. (Ne te fie jamais au vent qui gonfle tes voiles, il est toujours périmé). Im Gedicht schluss, »wo die reise nun nächtigt«, lagert sie auch in den Wörtern »riesig« und »reisig«.
Das Liebesgedicht reise weist eine seltsame Ansammlung von Pronomina auf. Das »ich« ist nur durch das Possessivpronomen in »mein tal« vertreten. Dafür tritt das »wir« (im Nominativ und im Akkusativ) auf. Dann gibt es da noch die zweite Person in »dir durchs haar«. Es fällt auch auf, daß diese Fürwörter oft an eine erotische Geographie oder Meteorologie des Körpers geknüpft sind, z.B. in »mein tal«, »das uns milde wärmt«, »wo uns zärtlich, als flocken, der schnee treibt«. Die Oppositionen zwischen dem »ich« und dem »wir« sind nicht immer symmetrisch angelegt. So geht die Reise zuerst in »mein tal«, von dem dann aber gesagt wird, daß es »uns milde wärmt«. Eine ähnliche Asymmetrie findet sich in den Zeilen 10 und 11 vor: Die Reise des Gedichts fährt »in den halbschatten des herbstnachmittags, dir durchs haar, der uns die worte tönt«. In der zweiten Zeile eignet sich also das Ich einen Ort (»mein tal«) an. In der zehnten Zeile ist dieser Ort klar am Körper des Liebesobjekts (»dir durchs haar«) angezeigt. Beide Zeilen heben den Objektstatus des Anderen hervor. Das Objekt gehört zum Subjekt. Auf der grammatikalischen Ebene stehen sich also in der zweiten und dritten Zeile »mein« und »uns« gegenüber, in der zehnten und elften »dir« und »uns«, wobei »mein« und »dir« das Objekt determinieren. Das Subjekt schreibt sich das Objekt zu (»mein tal«, »dir durchs haar«). Dabei ist das Subjekt doppelt vertreten – durch die Abwesenheit des Ichs und durch den Plural »wir«. Wer »wir« sagt, impliziert, daß er es nur von sich aus tun kann. Aber die Identität seines Selbst ist nicht gewisser als die des »wir«. Was diesem Identitätsmangel abhilft, ist das Objekt des Anderen, dessen sich das Subjekt in der poetischen Durchdringung bemächtigt. Man findet dieses Verfahren, das auch an den Kubismus erinnern mag, schon bei Joyce, der im Ulysses eine Art Organsprache entwickelt, wenn er Eigennamen mit Sinnesorganen (Auge, Ohr, Lippen, ...) verschmilzt.
Die reise wird doppelt unternommen. Von einem zum anderen, aber auch zusammen. Wenn sie vom einen zum anderen verläuft, kommt sie zu einer Reihe von Haltepunkten, die wir als Ausdrücke für das Objekt auffassen. Neben den beiden erwähnten können wir »knospen«, »sommersprossig«, »harz an harz«, »lappland der lippen« aufzählen. Die beiden Reisenden teilen die Instanzen des Objekts, kommen dort einen Augenblick zur Ruhe. Diese Symmetrie steht der vorher genannten Asymmetrie gegenüber. Aber man merkt, daß den Liebenden nur vorläufige Rast gewährt wird. Insofern sie zusammen reisen, können sie an den Haltepunkten des Objekts nicht verweilen.
Zwischen zwei Schwellenlandschaften verläuft die reise. Beide Länder sind einer Jahreszeit zugeordnet und durch paradoxale Epithete gekennzeichnet. Zuerst geht es »ins zarte feuerland des frühlings« und am Ende bis »in ein lappland der lippen«, wo das Eigenschaftswort »zart« als Adverb »zärtlich« wieder auftaucht. Man kann in den paradoxalen Charakterisierungen der beiden erotischen Landschaften eine Umkehrung erkennen. Die poetische Liebesbeziehung beginnt im »zarten feuerland des frühlings« und erreicht ihre Akme im winterlichen »lappland der lippen«. Die traditionelle Dichtung verbindet mit der Winterreise den Tod. Man könnte aber sagen, daß die beiden Schwellenlandschaften wie bei einer projektiven Ebene im Unendlichen ineinander übergehen. Die erotische Geographie der reise läßt sich nicht auf Körpermetaphern einschränken. Vielmehr alternieren in ihr die Orte der Begegnung mit dem Objekt und der offene Raum des Begehrens des Anderen. Nehmen wir als Beispiel folgende Passage (Zeilen 8-11): »in den halbschatten des herbstnachmittags, dir durchs haar, der uns die worte tönt«. Im Satzteil »dir durchs haar« engt sich die Rede des Gedichts auf das vom Körper abtrennbare Haar, also auf einen Objektträger, ein. Dieser Redeteil wird aber von zwei anderen Satzteilen eingerahmt. Der » halbschatten des herbstnachmittags «, der an Rafael Albertis Rendezvous »im Erlenschatten« erinnert, tönt uns die Worte. Diese durch das semantische Feld – »haar«, »tönt« – ermöglichte Metapher bringt also das Genießen ins Spiel, das dem Anderen, der Sprache, fehlt: das Tönen, die Stimme, die Farbe, die Worte. Die Stelle könnte auf Rimbauds Sonnet des voyelles anspielen, ein Gedicht, das von der Verbindung zwischen den Selbstlauten und den Farben handelt. In ihrer Rimbaud-Biographie behauptet Enid Starkie, daß sich schon der französische Dichter bezüglich dieser symbolischen Beziehung zwischen den Lauten und den Farben auf eine lange Tradition berufen kann.
Man findet die selbe Alternanz von Engführung und Öffnung am Beginn und am Ende des Gedichts. Zeilen 1–4: »ins zarte feuerland des frühlings, mein tal, das uns milde wärmt und öffnet unseren wünschen knospen.« Zeilen 12–15: »bis in ein lappland der lippen, dort, wo uns zärtlich, als flocken, der schnee treibt… »
Die reise durchquert die vier Jahreszeiten, schließt sie aber nicht zum Kreislauf. Dieser Durchlauf der phallischen Diagonale bedient sich vier erotischer Metaphern. 1) »und öffnet unseren wünschen knospen« (Frühling). 2) »und da kleben wir, harz an harz« (Sommer). 3) »dir durchs haar« (Herbst). 4) »in ein lappland der lippen« (Winter). Alle vier Metaphern evozieren aber zugleich den Anderen der Sprache: die Knospen öffnen sich den Wünschen; die Liebenden kleben komisch »harz an harz«; der halbschatten, der die worte tönt; und das »lappland der lippen«: es ist erogene Zone, aber auch Ort des Sprechens.
In der Metapher für diesen Ort (»ein lappland der lippen«) kehrt der Dichter die herkömmliche Rhetorik um. Die Erfüllung der Liebe ließe in den Schlußversen eher Hitze und Glut erwarten als »flocken« und »schnee«. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, daß die Umkehrung in der Opposition der Signifikanten »feuerland« und »lappland« vorweggenommen ist. In der Eingangszeile ist das Feuer ja durch das Attribut »zart« gemildert. Und dieses »zart« taucht am Schluß als »zärtlich« wieder auf. Auch wird der Gegensatz auf der Ebene der Referenz aufgehoben. Feuer- wie Lappland sind ja kalte Weltgegenden.
Trotz ihrer Polarität scheinen Feuerland und Lappland ineinander überzugehen. Diese Lesart kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Dennoch verläuft die reise nicht zyklisch. Sie hat an vier Stellen, die wir als Haltepunkte des Objekts erkannt haben, Station gemacht. Aber der Gedichtschluß zeigt, daß ihr Ziel nicht im Endlichen liegt: »dort, wo uns zärtlich, als flocken, der schnee treibt«.
Die phallische Bedeutung orientiert die Reise, peilt die Orte des Objekts an. Aber sobald ein Ort besetzt ist, verliert er seinen Wert als Ziel der Reise. Sie geht weiter. Schon im Gedicht schluss »nächtigt« die Reise nur. reise schreibt sich in den Triebdualismus Freuds ein. In ihr entfaltet der Lebenstrieb seine Sinnlichkeit. Aber sie verschweigt auch nicht den Todestrieb, der die phallische Dynamik als Schein bloßstellt und die naturwerdenden Orte wieder auflöst: sie sind nur tönende Worte.
Der suspendierte Gedichtschluß bringt die Überraschung. Die Liebenden fügen sich in ihre Winterreise und lassen sich im unendlichen Raum als Flocken treiben. Genau dort, wo das »wir« sich durchsetzt, beginnt die (winterliche) Entropie. Hölderlin hat die Vereinigung von Mensch und Gott als ihre Trennung gedacht. Musils Erzählung „Die Vollendung der Liebe“ endet ebenfalls in einer Schneelandschaft, und auch in ihr wird die Vereinigung vor dem Hintergrund von Zerfall gedacht. Man denkt auch an das Schneetreiben im Schlussabsatz von Joyces Novelle „Der Tote“ („The Dead“) in Dubliners. Für Priessnitz ist Liebe eine Reise ins Unendliche.
Im Unterschied zum platonischen Vereinigungsmythos entwirft dieses Gedicht einen Liebesbegriff, der die Trennung und Auflösung nicht fürchtet. Priessnitz hat in reise mehrere Elemente seines schneelieds verarbeitet. Auch schneelied spricht von der Beziehung des Dichters zum Anderen, seinem »sprechenden spiegel«. Von diesem wird in der Eingangszeile gesagt, daß er sich blind spricht. So taucht dann auch das Objekt als Stimme auf, und auch die vom Objekt eingeschlossene Kastration: »spricht seine stimme / henne und hahn / wird wenn es schneit / das sprechen ein winter / schnitter und sense…«.
schneelied endet mit folgenden Versen:
»unter schneefall und schneefall
werden wir wandernmein sprechender spiegel
klirrende fragen
im fallenden traum »
Die Liebe zur Sprache und die Liebe zu einer Frau führen nicht zur Vereinigung, sondern zur Überschreitung in den durch das Schneetreiben symbolisierten unendlichen Raum.
*der blaue wunsch für franz kaltenbeck
dass das zu schreibende ein anderes wäre,
so wie das andere das zu schreibende ist,
wie es auch beginne, dem gleichenden zu
lauten; laufen, dass das zu schreibende
dieses sei, anders als dieses, das dieses
so anders beginne, stets gleich lautend:
dieses zu schreibende wäre, anders begonnen,
eines anderen lauf, dass das laufend stete
andere, das dieses sei, gleichlautendes wäre,
dem anderen als zu schreibendes zulaufend,
als beginnendes, anders zu sein, gleich laut
stets, des andern stille, dass das begonnene
das anders zu schreibende sei, das von beginn
anders wäre, wie es auch laute, ein schreiben,
das laufe: gleich diesem beginn, als des anderen
laut, dieses: dass das andere ein zu schreibendes
wäre, so wie das zu schreibende der beginn
eines anderen ist, das diesem gleich sei,
anders: schreiben laufe als anderes, anderem zu,
das, wäre es dieses, das so laufende schreibe.
Dieses Gedicht dürfte aus dem Jahre 1977 stammen. Jedenfalls hat Priessnitz es mir im Juli 1977 zum Lesen gegeben. Die Ironie im Titel kann niemandem entgehen. Er spielt auf die Freudsche Wunscherfüllung im Traum an. Dem wirklichen Schreiben aber genügt der Traum nicht. In seiner Novelle „Das Beruhigungsmittel“ („Le Calmant“) greift Samuel Beckett den Traum auf eine für ihn charakteristische Weise an. Der Erzähler in dieser Novelle behauptet einerseits, der Traum sei „nichts“, was bei Beckett immer sehr viel ist. Dann fügt er dem aber auch hinzu, der Traum sei ein „Scherz“ („une rigolade“), und zwar deshalb, weil er Bedeutung hat („Et avec ça significatif!“). Priessnitz dürfte in diesem Gedicht auf Herman Melvilles Bartleby, der Schreiber anspielen. Er überwindet allerdings die Abwehr und Verweigerung des Helden dieser Erzählung. Das Eigenschaftswort »blau« läßt sowohl an die Trunkenheit wie an die Romantik denken. Die wirkliche Ironie besteht in einer Art Rochade, bei welcher der dem Wunsch des Subjekts zugrundeliegende Mangel gegen den Mangel im Anderen getauscht wird. So entsteht dieses Werk. Das soll mit einer Lektüre gezeigt werden, die nicht den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Kurze Beschreibung
Das fünfstrophige, in zwanzig Zeilen gegliederte Gedicht enthält fünf durch die Konjunktion »dass« eingeleitete Wunschsätze. In diesen aber wechselt der zweite Konjunktiv (»wäre«) mit dem ersten (»sei«) ab. Wir haben also folgende Reihe: dass … wäre; dass … sei; dass … wäre; dass … sei; dass … wäre. Wie man weiß, drücken diese beiden Konjunktive nicht dieselben Optative aus. Der Konjunktiv II steht hier für einen noch nicht realisierten Wunsch. Der Konjunktiv I sagt, daß ein Wunsch verwirklicht werden kann.
Verfahren
In diesem Gedicht werden zwei Verfahren angewendet: Entfaltung und Permutation. Dazu ist aber die Setzung oppositioneller Terme, die von Differenz und von Identität, notwendig. Z.B. verknüpft die Ausgangszeile die Begriffe »das zu schreibende« und »ein anderes«. Natürlich besteht aber vor allem zwischen diesen beiden Begriffen eine Differenz, ja ein Gegensatz. Die zweite Zeile behauptet dann eine Identität: das andere ist das zu schreibende, wobei hier der Indikativ »ist« zweideutig aufgefaßt werden kann, nämlich auch als »muß«. Zeile 2 impliziert eine weitere Differenz: das andere ist nicht ein anderes. Für die Entfaltung geben wir das Beispiel von Zeile 4 und Zeile 5: »dass das zu schreibende dieses sei, anders als dieses…«. Diese Operation führt zu einer différance, wie sie Jacques Derrida definiert hat.
Einige Begriffe
Hier werden die wichtigsten Begriffe dieses Gedichts aufgezählt: das zu schreibende, ein zu schreibendes, ein anderes, das andere, anders, beginnen, lauten, gleichlauten, laufen, zulaufen, das laufende, das laufend stete andere, laut, stille, schreiben.
Der Leser kann anhand dieses Vokabulars die zwei oben erwähnten Verfahren erkennen. Z.B. permutieren die beiden Terme der ersten Zeile in der sechzehnten Zeile: »dass das zu schreibende ein anderes wäre» ( Zeile 1) wird zu »dass das andere ein zu schreibendes wäre» (Zeile 16). Oder: »eines anderen lauf« (in der achten Zeile) wird zu »des anderen laut« (in der fünfzehnten und sechzehnten Zeile).
Konsequenz
Man kann die erste Strophe (bis zum Verbum »laufen«) als die Exposition des Gedichtes lesen. Die vier anderen Strophen entfalten das in der ersten Exponierte. Die Entfaltung kann sich dabei die Gegensätze zunutze machen, z.B. (»dieses«, »anders als dieses«). Jeder Schritt in ihr läßt sich aus den vorhergehenden Schritten streng ableiten.
Nehmen wir zum Beispiel die zweite Strophe als eine Entfaltung der ersten. In den ersten Zeilen der ersten Strophe steht der Ausgangswunsch: »dass das zu schreibende ein anderes wäre«. Ein anderes kann vieles sein, auch »dieses«. Wenn »das zu schreibende« aber »dieses« ist, kann es dann zugleich auch »ein anderes« sein? Werden? Der zweite Wunschsatz (vierte und fünfte Zeile) sagt zuerst nur: »dass das zu schreibende dieses sei«. Aber worauf bezieht sich »dieses«? Auf das gerade in der vierten und fünften Zeile Geschriebene? Der Einführung des Demonstrativpronomens »dieses« folgt, wie in einer Art Korrektur, einer Durchstreichung des vorher gesagten: »anders als dieses, das dieses so anders beginne…« (fünfte und folgende Zeilen). Daraus kann man auf eine Ambiguität des Bezugs, der Referenz von »dieses« schließen: Es bezieht sich nicht nur auf das von der vierten Zeile an geschriebene, sondern auch auf den Anfang des Gedichtes, also auf »das zu schreibende«. Dieser Term wird in der Folge korrigiert und in der Schlußstrophe eliminiert.
Ablösung
Der in der ersten Zeile ausgedrückte Wunschsatz zielt auf eine Identität. Die zweite Zeile behauptet eine. In der Dichtung muß Identität als Gleichlaut materialisiert werden, daher die dritte Zeile: »wie es auch beginne, dem gleichenden zu lauten«. Unmittelbar nach dieser Forderung nach Äquivalenz reiht der Autor zwei fast gleich lautende Verben aneinander: »lauten; laufen« (Vierte Zeile). In ihrer Sequenz finden sich also Identität und Differenz zusammen vor. Die Lautmuster der beiden Verben gleichen einander bis auf den Unterschied zwischen »t« und »f«. Auf der Sinnebene hat der Dichter einen theoretischen Gegensatz zwischen den beiden Verben verwendet. »Lauten« impliziert die Singularität einer Aussage (Wortlaut). Insofern ist dieses Verbum auf der Seite der Metapher. »Laufen« wird dagegen als das Prinzip der Entfaltung eingesetzt. Dieses Zeitwort gehört also zur metonymischen Seite. Sowie »lauten; laufen« einen unvollständigen Gleichlaut bilden, kann auch die Konstruktion des Gedichts nicht mit einer Metapher auskommen. Es bedarf der Entfaltung, des metonymischen Laufs. Das Gedicht »schildert« einen paradoxalen Wettlauf beider Figuren, wie den von Achilles und der Schildkröte.
Diese Unreinheit hat die Funktion des Sandkornes, um das sich die Perle bildet. Aber es gibt da noch eine zweite Unreinheit, die die Entfaltung des Textes ermöglicht. Die ersten beiden Verse setzen nicht nur eine Gleichheit (Zeile 2) in Beziehung. Sie spielen zwischen drei Begriffen: das zu schreibende, ein anderes, das andere. Was der Wunschsatz postuliert, ist die Ersetzung des anderen durch ein anderes. Das ist die zweite Abweichung, die zweite Unreinheit, aus der das Gedicht entsteht. Sie besteht im Unterschied zwischen dem anderen und einem anderen. In Lacans Begriffen: zwischen dem großen Anderen (A) und dem aus ihm herausfallenden Objekt (a).
Das Gerundiv »das zu schreibende« läßt keine Wahl. Es zieht einen reinen Imperativ nach sich, ein »das muß geschrieben werden«. Das zu Schreibende als das Andere erscheint wie ein Unausweichliches. Von ihm muß der blaue wunsch weg, auch wenn er es realisieren will. Er schreibt dieses »weg«, den Weg der Abweichung. Aber um diese Verschiebung zu erreichen, bedarf es einer vierstrophigen Entfaltung und zwar Schritt für Schritt. Wir werden diese Schritte hier nicht im einzelnen erklären. Es muß genügen darauf hinzuweisen, daß die beiden imperativen Terme – »das zu schreibende« und »das andere« am Schluß des Gedichtes eliminiert werden. Der letzte Wunschsatz (in den Zeilen 16 und 17) sagt: »dass das andere ein zu schreibendes wäre« (Umkehrung von Zeile 1). Der Term »ein zu schreibendes« steht fortan für »das andere«, wird nun aber selbst abgelöst: »so wie das zu schreibende der beginn eines anderen ist«. Letztere Feststellung ist eine einfache Evidenz, wenn man auf die erste Zeile schaut. Danach wird die Gleichheit von »das zu schreibende« und »ein anderes« etabliert (Zeile 17 und 18) und damit die Forderung der dritten und vierten Zeile erfüllt. Wiederum beruht diese Gleichheit auf der Eliminierung eines Terms. Das überichhafte »das zu schreibende« verschwindet zugunsten von »ein anderes«, wie es der Eingangsvers ja wünscht. Die beiden Schlußverse erläutern dann den Schreibvorgang. Dieser verläuft nur durch die Differenz im Anderen, also nicht in der Identifizierung mit ihm. Der Buchstabe des Gedichts läuft »als anderes, anderem zu«.
Postscriptum
der blaue wunsch hat trotz oder vielmehr wegen seiner anstrengenden Logik den Charakter eines Witzes. Ein Wunsch setzt eine Differenz voraus. Bei Freud ist es die Differenz zwischen dem verlorenen und dem phantasierten Objekt. Der Freudsche Wunsch zielt auf eine Identität. Auf jene zwischen der Vorstellung und dem in der Realität gefundenen Objekt. Der Unterschied in der blaue wunsch besteht eigentlich in einer Unmöglichkeit. Und der Witz dieses Gedichtes realisiert dieses Unmögliche.
Warum ein Unmögliches? Auf der einen Seite der Gleichung steht ein absolut unbarmherziges, man möchte sagen, ein Kantsches Objekt, nämlich »das zu schreibende«. Man könnte diesen Ausdruck so umschreiben: Nur dieses ist zu schreiben! Also ein kategorischer Imperativ, die Aufforderung, den Trieb in die reine Form des Gesetzes zu zwingen. Und wie könnte eine solche Forderung nach der zwingenden Formel »ein anderes« werden? Wie kann es zum Absoluten eine Alternative geben? Aber sagt das Gedicht nicht in der zweiten Zeile, daß die Alternative (»das andere«) das Absolute (»das zu schreibende«) ist?
Priessnitz gelingt sein Witz gerade deswegen, weil er den Gleichheitsbegriff mit großer Strenge einsetzt. Er verzichtet keineswegs auf das Absolute, obwohl er den Gerundivausdruck »das zu schreibende« im Laufe des Textes abbaut. Aber indem er die Gleichheit durchsetzt, kann er den Unterschied, das Aufklaffen zwischen dem Absoluten und seinem Ausdruck als sein Gedicht präsentieren.
Der Satz: »wie es auch beginne, dem gleichenden zu lauten« (Zeilen 3 und 4) zeigt, daß »es« (»das zu schreibende«, das, was wir das Absolute genannt haben) auf zwei Schauplätzen zugleich spielt. In der Schrift. Es gehört bereits zum Text. Es nimmt an der Entfaltung teil und diese sucht »dem gleichenden zu lauten«, muß aber dabei auch »laufen«. Dann verweist »das zu schreibende« aber auch noch auf den Schauplatz vor der Schrift, auf etwas, das noch nicht in die signifikante Kette eingetreten ist. Dort hat es sich noch nicht auf die Diachronie eingelassen, dort ist es eine reine Mächtigkeit wie der Trieb. In Freuds Theorie kann der Trieb zwar repräsentiert werden, aber seine »Vorstellungsrepräsentanz« ist urverdrängt. Priessnitz gibt nun gerade in diesem Punkt nicht nach. Er gibt die Idee des Absoluten nicht auf. Er zeigt vielmehr, daß sie ein Problem darstellt. Seine Lösung besteht nun darin: Einerseits konstruiert er eine kohärente Kette, in welcher »das zu schreibende« »ein anderes« werden kann. Diese Metamorphose erweist sich als legitim, wenn man die einzelnen Schritte seines Gedichtes wie Theoreme anwendet. Zugleich spricht das Gedicht aber vom Schauplatz vor der Schrift und beginnt damit, in jedem Punkt, bei jedem Schritt von neuem. Nur wußte sein Autor eben, wie er (es) zu beginnen hatte: der blaue wunsch verschränkt stetig die negative Mächtigkeit eines Noch-nicht-Geschriebenen und die Entfaltung des Schreibens als Gedicht. »das zu schreibende« ist nicht einfach. Einerseits verweist es über sich hinaus, als etwas, das einfach noch nicht da ist. Andererseits besteht es schon im Wissen, daß es nichts anderes neben sich gelten lassen kann. Also kann es nur in der Vereinigung von ‚noch nicht’ und ‚nichts anderem’ gedacht werden. Dieses ontologischen Widerspruchs, dieser Spaltung bedient sich der Autor. Er bringt den einen Schauplatz in den anderen ein. Daher entfaltet sich dieses Gedicht auch dadurch, daß einige seiner Teile andere ‚ausstreichen’, als mische sich das, was nicht gesagt werden kann, in das Gesagte ein.
anmerkungen
1 Reinhard Priessnitz, vierundvierzig gedichte, edition neue texte, 1978. 2 Die Werkausgabe liegt in den Bänden 1,2,3/1,3/2, und 4 vor. Sie ist bei edition neue texte, Literaturverlag Droschl zwischen 1986 und 1994 erschienen. 3 Walter Ruprechter, Herausgeber, reinhard priessnitz symposion paris 1990, Literaturverlag Droschl, edition neue texte. 4 cf. Franz Kaltenbeck, Entzwei, in: reinhard priessnitz symposion, op.cit.
*Sur deux poèmes de Reinhard Priessnitz. Unveröffentlichter, auf dem Kolloquium Ecrire la poésie gehaltener Vortrag, Brantôme im Périgord, Juni 1998 (auf Einladung von Joseph Zudas und Albert Nguyen). Dieser Text wurde neu auf Deutsch geschrieben.
Franz Kaltenbeck
Veröffentlicht in: "manuskripte 165" - Graz 2004
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